Die Idee revolutionierte nicht nur die Lebensmittelgeschäfte, sondern die gesamte Branche. Statt über eine Verkaufstheke durften Kunden die Ware nun aus Regalen selbst entnehmen:
Vor 100 Jahren, am 9. Oktober 1917, erhielt Clarence Saunders unter der Nummer „US1242872A“ ein Patent auf sein Supermarkt-Konzept. Doch da hatten sich Imitatoren schon überall in den USA breitgemacht.
Bereits am 6. September des Vorjahres hatte er in Memphis im US-Bundesstaat Tennessee unter dem Namen „Piggly Wiggly“ das erste, neuartige Geschäft eröffnet. Bis dahin war es Kunden nicht erlaubt, Waren selber einzusammeln.
Stattdessen gaben sie einem Mitarbeiter ihre Einkaufsliste – der ging dann durch den Laden, um die Sachen herbeizuschaffen. Saunders nannte das eine Verschwendung von Zeit und Arbeitskraft. Zudem war dem Kaufmann aufgefallen, dass besonders eilige Kunden häufig auf den Theken ausgebreitete Waren direkt kauften.
Das Personal trug Uniform
Piggly-Wiggly-Kunden betraten den Laden durch ein hölzernes Drehkreuz und bewegten sich durch vier Gänge, um zwischen insgesamt 605 verschiedenen Waren zu wählen, die verpackt und nach Gruppen fein säuberlich sortiert in Regalen lagen.
Das Warenangebot reichte von Cornflakes über Backpulver bis zu Wäscheklammern. Schließlich führte der Weg zur Kasse, der so angelegt war, dass der Kunde möglichst alle Gänge durchlief. Bezahlt werden musste bar, das bis dahin übliche Anschreiben der Waren war passé.
Diese neue Art des Lebensmittelhandels setzte sich zügig durch. Bis 1922 wuchs Saunders Imperium auf rund 1200 Geschäfte in 29 Staaten an, meist betrieben Franchise-Nehmer die Piggly-Wiggly-Läden. Zur ungewöhnlichen Namenswahl seiner Firma sagte der Gründer: „Ich wollte für Aufmerksamkeit sorgen und Menschen neugierig machen.“
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Die Grundlagen seines Erfolgs kennen wir noch heute: Alle Geschäfte präsentierten identische Einrichtungen, stets gleiche Produkte waren in allen Märkten immer an denselben Stellen zu finden. Vereinheitlichte Verpackungen und Produktnamen namhafter Hersteller sorgten für einen hohen Wiedererkennungswert, an jedem Artikel klebte ein Piggly-Wiggly-Preisschild, das Personal trug Uniformen.
Vorbehalte in Deutschland
Darüber hinaus achtete Saunders penibel auf gemeingültige Standards von Qualität und Sauberkeit. Und er zeigte sich innovativ, indem er die Waren in Kühlboxen länger frisch hielt und landesweit Werbeanzeigen schaltete. Pro Artikel peilte er oft nur kleine Gewinnmargen an, die sich durch tausendfachen Absatz in Hunderten von Märkten zu stattlichen Gewinnen summierten.
50 Jahre später kopierte der deutsche Discounter Aldi dieses Prinzip. „Dass Piggly Wiggly heute trotzdem nicht die größte Supermarktkette der Welt ist, liegt daran, dass sich Saunders nach seinem Erfolg maßlos überschätzte und übernahm“, schreibt Mike Freeman in seinem 2011 erschienenen Buch „Clarence Saunders and the Founding of Piggly Wiggly: The Rise & Fall of a Memphis Maverick“.
Saunders war nicht nur Franchisegeber, sein Unternehmen notierte auch an der Börse. Doch im November 1922 verspekulierte er sich und verlor drei Millionen Dollar, manche Quellen sprechen gar von neun Millionen. Nach der Pleite wurde sein Unternehmen aufgespalten und an lokale Lebensmittelketten wie Kroger und Safeway verkauft.
Doch auch nach dem Abschied von Piggly Wiggly blieb der Supermarktpionier der Branche treu und gründete 1928 „Clarence Saunders Sole Owner of My Name Stores“. Die Kette firmierte der Einfachheit halber unter „Sole Owner“, zu ihr gehörten 1929 bereits wieder 675 Geschäfte. Nach dem Schwarzen Freitag ging jedoch auch sie in Konkurs.
Andere Supermarktketten entwickelten Saunders Idee weiter und machten SB-Märkte weltweit zum Standard. 1930 startete im New Yorker Stadtteil Queens Michael Cullen unter der Bezeichnung „King Kullen“ eigene Lebensmittelgeschäfte. Er führte Sonderangebote ein, bot den Kunden Autoparkplätze an, verwendete frei stehende Regale und vergrößerte damit die Angebotspalette beträchtlich.
In Europa eröffnete der Drogist Herbert Eklöh 1938 in Osnabrück den ersten Selbstbedienungsladen, die Geschäftsidee hatte er von einem Amerikabesuch mitgebracht. Der Laden verfügte über eine Verkaufsfläche von 250 Quadratmetern. Weil Verbraucher anhand der Verpackungen und Namen nicht sofort erkannten, welches Produkt sich dahinter verbarg, scheiterte sein Versuch.
Erst 1942 hatte man in England unter dem Namen „Self-Service“ und 1947 in Schweden unter „Snabbköp“ („Schnelleinkauf“) mit der Einführung von Selbstbedienungssystemen begonnen. In Deutschland etablierten sich SB-Märkte erst ab 1949.
Der Geschäftsführer des Kölner Retail Institutes EHI, Michael Gerling, sieht in der historischen Einführung der Selbstbedienung eine Zäsur im Einzelhandel: „Es war eine Revolution – mit vielen Konsequenzen.“ Die Entwicklung sei auch nach 100 Jahren nicht abgeschlossen. Und er glaubt: „In Zukunft wird es mehr Selbstscan-Kassen geben.“ Auf die Selbstbedienung folge das „Selbstkassieren“.